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Nahversorgung im ländlichen Raum:
Dorfladen "von Bürgern für Bürger"

 

Acht Millionen Menschen sind in Deutschland bereits "unterversorgt" und leiden unter dem Rückzug des Einzelhandels aus dem ländlichen Raum und aus den Vororten der Städte. In dem nur 530 Einwohner zählenden Dorf Otersen bei Verden (Aller) - mitten in Niedersachsen - wollten sich die Einwohner im Jahr 2000 nicht mit der Schließung des letzten Lebensmittelgeschäftes abfinden. Acht Kilometer bis zum Bäcker und 15 Kilometer bis zum Supermarkt und die Unterversorgung im Dorf wären die Folgen gewesen. Über 60 Bürger gründeten eine Bürger-Gesellschaft, die inzwischen erfolgreich ihren eigenen Lebensmittel-Markt betreibt. Inzwischen berichtete auch der ZDF-Länderspiegel vom Dorfladen "von Bürgern für Bürger" im niedersächsischen Otersen. "das rathaus" sprach mit dem Initiator des Dorfladens, Günter Lühning.

 

das rathaus:
Wie entstand die Idee für den Dorfladen in Otersen?

Günter Lühning:
Das letzte von früher drei Lebensmittelgeschäften sollte zum 1. April 2001 aus Altersgründen geschlossen werden. Wir haben im Dorf einen Arbeitskreis gegründet. Unser Ziel war es, eine Einkaufsmöglichkeit für drei Dörfer mit 750 Einwohnern 15 km südlich der Kreisstadt Verden zu erhalten.

das rathaus:
Wie lange haben Sie nach der Lösung gesucht?

Günter Lühning:
Wir haben uns etwa neun Monate lang Gedanken gemacht, uns über viele Alternativen informiert und dann unser eigenes Konzept für einen Dorfladen "von Bürgern für Bürger" erstellt. Wir haben viele Konzepte kennengelernt und geprüft: Manche waren erfolgreich, andere scheiterten, darunter auch der Versuch, Waren-Bestellterminals in den Dörfern zu etablieren. Wir mussten erkennen, dass der Lebensmittel-Einzelhandel eine schwierige Branche ist, in der sich die großen Anbieter und die Discounter einen gnadenlosen Preiskrieg liefern - zu Lasten der Nahversorgung im ländlichen Raum.

das rathaus:
Was wurde aus dem Konzept der Warenbestellterminals?

Günter Lühning:
Es scheiterte, denn Menschen wollen nicht in einem elektronischen Katalog Lebensmittel bestellen und dann warten. Sie wollen ihre Waren vor Ort anfassen, bezahlen und sofort mitnehmen.

das rathaus:
Wie sieht Ihr Modell für Otersen aus?

Günter Lühning:
Wir haben uns für einen Dorfladen "von Bürgern für Bürger" entschieden. Unsere Bürgergesellschaft betreibt den Dorfladen, zahlt die Miete, beschäftigt die fünf Mitarbeiterinnen, trägt das unternehmerische Risiko und bietet den Bürgern ein Warensortiment mit 2.000 Artikeln und viele Service- und Dienstleistungen vor Ort an.

das rathaus:
Das heißt, jeder kann sich am Dorfladen beteiligen?

Günter Lühning:
Ja! Wir haben über 60 Bürger als Gesellschafter/-innen. Das sind außergewöhnlich viele Gesellschafter, aber genau so haben wir das gewollt. Wir wollten einkommensschwächeren und Alleinstehenden im Dorf ebenfalls eine Beteiligungsmöglichkeit eröffnen. Während andere Dorfladen-Gesellschaften vor uns nur Anteile über 3.000 DM ausgegeben haben, haben wir uns bewusst für einen Anteilswert von nur 500 DM entschieden.

das rathaus:
Wie haben Sie das nötige Geld gesammelt?

Günter Lühning:
Am 6. Dezember 2000 kam es zum "Schwur". In der alles entscheidenden Bürgerversammlung habe ich als Initiator den Kosten- und Finanzierungsplan erläutert und die Latte ziemlich hoch gelegt: "Wir brauchen mindestens 70.000 DM Eigenkapital von Bürgern, sonst wird aus unserem Dorfladen nichts" war unser Ziel. Es hat geklappt: Die Bürger zeichneten in der Regel ganz nach ihren finanziellen Verhältnissen zwischen einem und sechs Anteilen.

das rathaus:
Ein Erfolg also?

Günter Lühning:
Das war genial! Nicht 70.000 DM sondern exakt 103.000 DM Eigenkapital haben wir am 6. Dezember 2000 eingeworben. Das zeigte, wie ernst es der Bevölkerung mit dem Dorfladen war. Über 60 Familien kaufen seit der Eröffnung am 1. April 2001 jetzt seit über fünf Jahren "in ihrem eigenen Laden" ein. Ein gutes Gefühl. Der fehlende Restbetrag in Höhe von 50.000 DM wurde uns von der Gemeinde und aus einem EU-Programm gegeben.

das rathaus:
Aus welchen Etats kam denn dieses Geld?

Günter Lühning:
Wir erhielten 50 Prozent aus dem EU-Förderprogramm "PROLAND" und die Gemeinde Kirchlinteln übernahm mit einer Zuwendung von 25.000 DM die erforderliche nationale Ko-Finanzierung. Die Gemeinde hat die Zuwendung aus dem Vermögenshaushalt bestritten. Die Zuwendung wurde einstimmig beschlossen, um eine wichtige Infrastruktur-Maßnahme zu unterstützen.

das rathaus:
Wofür haben Sie das Geld genutzt?

Günter Lühning:
Wir haben den alten Laden umgebaut, die Beleuchtung erneuert, neue Regale eingebaut, die Wände hell und freundlich gestrichen. Außerdem wurde in einen modernen Backshop, in einen neuen Kühltresen für Käse sowie Fleisch- und Wurstwaren und Kühlregale und Kühltruhen investiert. Schließlich muss ein Warenbestand im Wert von heute 20.000 € dauerhaft finanziert werden.

das rathaus:
Wer liefert Ihnen die Waren?

Günter Lühning:
Wir werden von einem Großhändler der Edeka, einem Großhändler aus Bremen, einer Landbäckerei, einem Fleischermeister aus der Region, einem Getränkehändler und einem Zeitschriftenhändler beliefert. Außerdem können die Kunden über unseren Dorfladen das ganze Sortiment von zwei großen Versandhäusern bestellen und im Dorfladen abholen.

das rathaus:
Wie sieht Ihre Bilanz nach fünf Jahren Dorfladen aus?

Günter Lühning:
Inzwischen schreiben wir seit zwei Jahren schwarze Zahlen. 2005 haben wir ein Plus von 4.000 Euro erwirtschaftet - eine gute Rücklage für eventuelle Reparaturen.

das rathaus:
Wie viel Umsatz macht der Dorfladen?

Günter Lühning:
Wir setzen im Jahr einen Betrag von 300.000 Euro um und das in einem 500-Seelen-Dorf.

das rathaus:
Welche Faktoren sind für den Erfolg eines Dorfladens wichtig?

Günter Lühning:
Es kommt auf die Einwohnerzahl, die Entfernungen zum nächsten Laden, Bäcker, Fleischer und Supermarkt, den Zusammenhalt der Bürger, die Dorfgemeinschaft, die Qualität des Dorfladen-Angebotes und solide kaufmännische Führung an. Über den Erfolg und nachhaltigen Bestand eines Dorfladens wird jeden Tag mit den Füßen abgestimmt. Werden vor Ort nur die im Supermarkt vergessenen Dinge eingekauft, dann kann ein Geschäft im Dorf nicht überleben. Jeder Bürger sollte einen Laden im Dorf schätzen.

das rathaus:
Sie meinen abseits vom bequemen Einkaufen?

Günter Lühning:
Ein Dorfladen ist schließlich auch ein sozialer Treffpunkt, nicht nur ein Lebensmittel-Markt, sondern ein Lebens-Mittelpunkt für das Dorf. Aufgrund der Herausforderungen des demographischen Wandels gilt es, die Überalterung der Dörfer zu verhindern. Lebenswerte Dörfer müssen das Ziel sein. Eine gute Nahversorgung ist auch wichtig, um junge Familien im Dorf zu halten und potenzielle Neubürger ins Dorf zu holen. Wer soll denn sonst irgendwann den Resthof oder Omas Häuschen erwerben? Wer sinkende Immobilienpreise, Wertverfall und sterbende Dörfer verhindern will, muss sich für eine gute Infrastruktur und Nahversorgung im Dorf engagieren. Bürger, die eigenes Geld in einen Dorfladen-Anteil stecken, haben damit auch in den Wert des Dorfes und der eigenen Lebensqualität investiert.

das rathaus:
Was können andere Gemeinden daraus lernen?

Günter Lühning:
Bürger und Kommunalpolitiker sollten gemeinsam überlegen, wie sie die Zukunft im Dorf selbst gestalten können. Das Niedersächsische Dorfladen-Netzwerk unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Christian Wulff steuert gerne Erfahrungen und Ideen für Konzepte bei. Unter unserer Beteiligung bildet sich jetzt sogar bundesweit ein Netzwerk. Es geht dabei nicht allein um die Versorgung mit Lebensmitteln, sondern um Nahversorgung insgesamt und im Ergebnis um die Zukunft des ländlichen Raumes. Wichtig ist auch die Versorgung der Bevölkerung im ländlichen Raum mit Dienstleistungen von Behörden, Post, Sparkassen und Banken. Da ließe sich einiges kombinieren.


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